Berta Flury-Galliker, Tagesmutter von mehr als 40 Kindern
Das Stationentheater «Us em Näihchäschtli» thematisiert das Schicksal von fünf historischen Frauenfiguren, die im Laufe der Jahrhunderte in Beromünster lebten und wirkten. Mit der Erzählung von Berta «Mama» Flury dürfen wir ein Stück Beromünster-Geschichte erleben.
Porträt der 92-jährigen Berta Flury-Galliker aus Beromünster, Tagesmutter von mehr als 40 Kindern von 1967 bis 1997
«Us em Näihchäschtli»
Im September 2023 nahm ich am Theaterrundgang «Us em Näihchäschtli» in Beromünster teil, einem Stationentheater mit Frauengeschichten. Dort lernte ich die eindrückliche Lebensgeschichte von Berta Flury kennen.
Im Februar dieses Jahres habe ich Berta Flury besucht. Sie ist mit ihren 92 Jahren noch bei recht guter Gesundheit und wohnt allein in ihrem Haus in Beromünster. Sie war gerne bereit, mir aus ihrem Leben zu erzählen.
Älteste von 13 Kindern
«Ich kam 1932 auf dem elterlichen Bauernhof auf dem Blosenberg in der Gemeinde Gunzwil zur Welt. Als Älteste von 13 Kindern musste ich stets auf dem Bauernhof mithelfen, hauptsächlich im Haushalt. Ausser einer halbjährigen Haushaltsschule in Sursee habe ich keine Berufsausbildung.
Mit 22 Jahren verlobte ich mich, wurde jedoch schwer lungenkrank und musste für 16 Monate nach Montana zur Kur. Dort litt ich sehr an Heimweh. Auch später hatte ich immer wieder gesundheitliche Probleme, ich hatte Gallensteine, Nierensteine, drei Fehlgeburten und bei jeder Schwangerschaft Venenentzündungen.
Einige Zeit nach meiner Heimkehr von Montana trat ich eine Stelle in der Flickerei bei der Calida Sursee an. Ich wollte ja heiraten und musste Geld verdienen. Nach meiner Heirat 1957 machte ich Heimarbeit für die Calida und führte den Haushalt. Bald nahmen wir die zwei unehelichen Kinder meiner Schwester bei uns auf. Unsere drei Söhne und die Tochter machten die Familie komplett. Weitere Kinder von Gastarbeiterfamilien kamen dazu, so dass ich bald Tagesmutter einer Grossfamilie war.»
Kinderbetreuung vor 50 Jahren
Kinderhorte und Spielgruppen gab es in Beromünster damals noch nicht. Aber um in der Schweiz bleiben zu können, mussten die Frauen arbeiten. So kam es, dass eines Morgens eine Mutter vor Berta Flurys Tür stand. Im Arm trug sie ihr kleines Kind. Sie flehte, es doch auch zu betreuen.
Die meisten der jungen Mütter mussten nach einem kurzen Mutterschafsurlaub wieder zur Arbeit. Und dann, wohin mit den Kindern? So wurde Berta Flury vor 50 Jahren die Anlaufstelle für diese Familien. Zu Beginn waren es vor allem Kinder italienischer Staatsbürgerschaft, später dann auch Kinder mit jugoslawischer und türkischer Staatsbürgerschaft. Sie alle waren bei Berta Flury bestens aufgehoben. Für 7 Franken pro Tag und Kind betreute und verpflegte Berta Flury die Tageskinder. Später wurde der Beitrag auf 9 Franken erhöht, dann auf 11 Franken. Am Schluss ihrer Tagesmami-Zeit hatte Berta Flury nur noch zwei Schweizer Kinder, die bezahlten Fr. 25.- pro Tag.
Rückblick ins Jahr 1967
Es ist morgens um sechs Uhr. Im Treppenhaus trägt Frau Ferrara ihr Hedi und ihren Remo zu Mami Flury. Es sind die ersten von mehreren Kindern, die an diesem Morgen eintreffen. Die werktätigen Mütter geben wochentags ihre Kinder bei der Tagesmutter ab. Bis um sieben Uhr werden es mehr als ein halbes Dutzend sein.
Die kleineren Tageskinder spielen, während die grösseren Kinder die Schule besuchen. Mittags sitzen alle hungrig am Tisch. Zeitweise müssen sie sogar in Etappen verpflegt werden. Am Nachmittag geht Mami Flury mit der Kinderschar nach draussen. Die Übermütigen werden an die Leine genommen und jene, die noch nicht laufen können, werden in Wägelchen mitgefahren.
Die Kinder verbrachten nicht selten 12 Stunden am Tag bei Mami Flury. Zum Essen gab es immer eine Suppe und Salat, manchmal auch Omelette und Wähen. Kartoffeln und viel Gemüse hatte sie im Garten, den Kuchenteig machte sie selbst. Täglich bereitete Mami Flury Bircher-Müesli zu und stellte auch Sirup und Konfitüren selbst her. Das Kochen bereitete ihr stets Freude, und sie betreute die Kinder gerne, auch wenn sie gelegentlich schwierig waren.
Aus der Not eine Tugend machen
Berta Flury machte aus ihrer Not eine Tugend. Das Einkommen ihres Mannes und der Erlös aus der Heimarbeit bei der Calida, eine Arbeit, die sie neben der Kinderbetreuung früh morgens und spät abends auch noch erledigte, reichten nicht aus, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Von klein auf war Berta gewohnt, anzupacken und bei der Erziehung ihrer Geschwister mitzuhelfen. Diese Fähigkeiten konnte sie als Tagesmutter bestens einsetzen und dazu auch noch die eigenen vier Kinder betreuen. Diese haben alle den Lehrberuf ergriffen. Gewiss hat das Leben in der Grossfamilie und die Mithilfe bei der Betreuung der Tageskinder ihren Gemeinschaftssinn gestärkt!
Und heute?
Berta Flury ist mit ihrem Leben zufrieden. Sie kocht auch heute noch für sich, isst einfach und gesund, viel Gemüse aus ihrem Garten, den sie noch immer weitgehend selbst bestellt. Sie freut sich stets auf einen Jass oder auf einen Ausflug mit ihrer Familie oder mit Freunden.
Kulturtipp
Rundgang "Usem Näihchäschtli 2024". Im Mai dieses Jahres können Sie wiederum bei einem Rundgang durch Beromünster Interessantes aus den Lebensgeschichten von vier weiteren Frauen erfahren.
22.03.2024
Von Ruth Balmer-Marti