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Der lange Weg zur perfekten Grossmutter

Laufgitter mit Kinderspielzeug drin

Das Warten hat gedauert, aber jetzt ist es soweit; jetzt sitzt er da bei mir, der schönste, klügste, aufgeweckteste Enkel aller Zeiten, also meiner, und will nun wöchentlich einen Tag von mir gehütet werden, d.h. wir, seine Eltern und ich, wollen das. Ob er es will, werden wir wohl erst später erfahren.

Ich bin bereit, eingerichtet dank Brockenstube, tutti.ch und ricardo. Es stehen wieder all jene Dinge in meiner Wohnung, von denen ich mich vor zirka 30 Jahren mit grosser Erleichterung entledigt habe.

Er sieht zufrieden aus, mein Enkel, aber er hat auch so seine Ansprüche. Bespasst möchte er werden, möglichst permanent. Will ich ihm aber auf Augenhöhe begegnen, muss ich mich sozusagen auf sein Niveau herunterlassen, physisch gesprochen. Uns fällt beiden im Moment das Vorwärtskommen auf dem Boden noch etwas schwer. Während es bei mir eher mit den Knochen zu tun hat, ist’s bei ihm die noch fehlende Koordination. Er scheint zwar zu wissen, dass Kriechen irgendetwas mit Armen und Beinen zu tun hat, aber wie genau man sie einsetzt, ist ihm nicht immer klar. Er liegt auf dem Bauch, fuchtelt wie wild mit allen vieren in der Luft und schaut mich vorwurfsvoll an. «Nicht schwimmen» erkläre ich ihm «kriechen». Wenn er sich dann plötzlich erinnert, dass man die Arme zum Ziehen einsetzen muss, kippt er ab und zu vornüber wie eine kleine Robbe, weil der eine Arm unter seinem Bauch geblieben ist, auch dabei kriege ich vorwurfsvolle Blicke. Aber er gibt nicht auf und legt eine bewundernswerte Ausdauer an den Tag, ganz zum Leidwesen meiner Knochen.

Auch gefüttert will er werden, mit einem Brei unbeschreiblicher Farbe und einer Konsistenz wie wir sie wohl später mal im Altersheim antreffen werden. Ich würd’s nicht essen, ihm bleibt nichts anderes übrig, also will er mindestens dabei seinen Spass haben. Während ich versuche, seinen Mund zu treffen, schaut er sich permanent um, mal weil im Radio plötzlich eine Stimme ertönt, mal weil draussen ein Vogel singt, mal einfach so, zum Spass eben. Überhaupt fasziniert ihn alles mehr als dieser Löffel, z.B. der Waschzettel seines Latzes, den er genau dann zum Mund führt, wenn der Brei dorthin unterwegs ist. Mit seinen Füssen kickt er mich in die Beine und die spastisch anmutenden Bewegungen seiner Finger helfen auch nicht bei der Nahrungszuführung und erinnern vage an jene des Sängers Joe Cocker.

Gut, das alles macht trotz allem irgendwie Spass, aber auch müde. Jede «Mutter-Gewesene» erinnert sich, auch nach über 30 Jahren, wie ein Kleinkind aussieht, wenn es müde ist. Sein Bett ist bereit, Plüschtierchen, Mobile, hübsche Decke. Da will er aber nicht hin, wirklich nicht und wenn er mich bis dahin noch toll gefunden hat – grosses Gegluckse, zweizahniges Strahlen – schreit er jetzt nur noch. So schön, klug und aufgeweckt er auch ist, mit der Zeit nervt das Geschrei. Aber dann tauchen aus dem Mutterarchiv Lieder auf, von denen ich teilweise gar nicht wusste, dass ich sie kannte: «Guten Abend gut Nacht», «Weisst du wieviel Sternlein stehen» und «Abendstille überall». Das alles spult sich automatisch ab, mit einer Stimme, bei der es mir kalt den Rücken runterfährt: Zittrig wie eine Grossmutter! Trotzdem, oder gerade eben darum, flappen irgendwann Arme und Beine runter, der Kopf fällt auf die Seite – geschafft! Keine 30 Minuten später ist er wieder bereit zu neuen Taten.

Um 17.00 Uhr steht die Erlösung an der Tür. Wir müssen noch viel lernen, der schönste, klügste, aufgeweckteste Enkel aller Zeiten und ich! Eins hat er mir aber bereits unmissverständlich zu verstehen gegeben: Ich bin nun halt wirklich eine Grossmutter, aber noch weit entfernt von der Perfektion!

02.September
2020

Von Gabi Bucher